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Offensive Tanz

Amelie Mallmann

Dance tells

An article from the journal "Spielweisen für junges Publikum"

available only in GERMAN

Eine Tänzerin und vier Tänzer stehen außerhalb eines großen Kreises aus Sand. Die Atmosphäre ist angespannt, das Licht düster. Kein Laut ist zu hören. Doch dann beginnt einer sich zu bewegen, langsam aber kraftvoll stampft er mit seinem Bein auf. Der Arm bewegt sich nach oben, der ganze Körper folgt dem Impuls. Seine Bewegungen heißen stomp und jab: Während die stomps die Füße in der Erde verankern und Stabilität bewirken, strecken sich die Arme mit den jabs gen Himmel, sammeln Energie ein und schleudern sie in den Raum. Langsam bringen sich auch die anderen in Bewegung, nicht nur ihr Körper, sondern auch ihre Mimik fängt an zu tanzen. Dann setzt die Musik ein: Le Sacre du Printemps von Igor Strawinsky. 

Szenenfoto aus: A Human Race – The Rite of Krump. Foto: René Löffler / TANZKOMPLIZEN
Szenenfoto aus: A Human Race – The Rite of Krump. Foto: René Löffler / TANZKOMPLIZEN

Diese Anfangsszene aus dem Tanzstück A Human Race – The Rite of Krump des französischen Choreografen Grichka Caruge etabliert jede Figur mit ihrer eigenen Art, sich zu bewegen. Die Langsamkeit drückt Vorsicht aus, ein wachsames Abwarten, was mit der Gruppe passieren wird. Die Spannung steigt durch die Stille, die dann ganz überraschend von der Musik durchbrochen wird. Nun beginnt die Geschichte dieser Gruppe, die sich weder chronologisch noch verbal vor den Augen des jugendlichen Publikums ab 11 Jahren entspinnt. Es ist die Geschichte von fünf Menschen, die Diskriminierung erfahren haben und in ihrem Tanz ein Ventil für unterdrückte Gefühle finden. Die Gemeinschaft bietet ihnen den Schutzraum, sich schonungslos zu zeigen.

Der Stil, in dem dies geschieht, heißt Krump. Entstanden um die Jahrtausendwende in der Schwarzen Community von Los Angeles, mutet Krump auf einer oberflächlichen Ebene aggressiv und wütend an. Die stampfenden Beine, die schwingenden, aber auch schlagenden und drohenden Arme, die verzerrte Mimik – aber Krump ist viel mehr. Es ist getanzter Widerstand, es versetzt den Körper in eine Art emotionale Trance, in der alle Gefühle zum Vorschein kommen dürfen.

Szenenfoto aus: A Human Race – The Rite of Krump. Foto: René Löffler / TANZKOMPLIZEN
Szenenfoto aus: A Human Race – The Rite of Krump. Foto: René Löffler / TANZKOMPLIZEN

Das Stück läuft derzeit im Programm von TANZKOMPLIZEN, einer Spielstätte in Berlin, die ausschließlich Tanz für junges Publikum zeigt. Jugendliche mit einem urbanen Tanzstil und einem Musikstück von 1913 zu konfrontieren, ist ein Wagnis, müssen sie sich doch auf Emotionen einlassen, deren vehementer Ausdruck kaum Rückzugsmöglichkeiten zulässt. Was erzählt ihnen der Tanz dabei, was erzählen die Körper, die sich so sehr in Rage tanzen tanzen? Das Publikum nimmt wahr, dass der Körper in der Lage ist, Gefühle nach außen zu transformieren, indem die Bewegungen auf bestimmte Weise geformt und gestaltet werden. Der Körper fungiert dabei als Archiv: Alle Muskeln, Sehnen, die Haut, die Knochen, alle Flüssigkeiten und Organe speichern Empfindungen, Erfahrungen, Traumata. Wie wir uns bewegen, zeigt, wer wir sind und was wir erlebt haben.

Auf einer Bühne kann vieles durch Worte transportiert werden, aber nur durch die Körpersprache wird der Gehalt einer Botschaft tatsächlich erfahrbar.

Im Fall von A Human Race wird durch Bewegungen klar: Die Tanzenden kämpfen gegen Grenzen an, die von außen gesetzt werden, aber auch gegen jene in ihren eigenen Köpfen. Sie tanzen gegen Rassismus, gegen Ausgrenzung und Entmenschlichung. Sie tanzen für eine starke Gemeinschaft, für Wahrhaftigkeit und gegenseitige Unterstützung. Um es zuzuspitzen: Sie tanzen um ihr Leben. Wo eine rein intellektuelle oder verbale Lösung bloße Behauptung bleibt, kann der Körper einen eigenen wer wir sind und was wir erlebt haben. Auf einer Bühne kann vieles durch Worte transportiert werden, aber nur durch die Körpersprache wird der Gehalt einer Botschaft tatsächlich erfahrbar. Im Fall von A Human Race wird durch Bewegungen klar: Die Tanzenden kämpfen gegen Grenzen an, die von außen gesetzt werden, aber auch gegen jene in ihren eigenen Köpfen. Sie tanzen gegen Rassismus, gegen Ausgrenzung und Entmenschlichung. Sie tanzen für eine starke Gemeinschaft, für Wahrhaftigkeit und gegenseitige Unterstützung. Um es zuzuspitzen: Sie tanzen um ihr Leben. Wo eine rein intellektuelle oder verbale Lösung bloße Behauptung bleibt, kann der Körper einen eigenen Ausweg finden. Indem er sich durch Bewegung ermächtigt, ermutigt, stabilisiert und sensibilisiert für Reaktionen auf die Bewegungen anderer.

Wer allein tanzt, braucht einen Zugang zu den eigenen Gefühlen und den Willen zur Gestaltung. Dann lässt sich nahezu alles in Bewegung übersetzen. Dann wird der Weg frei, sich auch ohne Worte auszudrücken und gespeicherte Emotionen loszulassen.

Das ist eine Botschaft, die gerade für Jugendliche entlastend sein kann, die durch ein Labyrinth widersprüchlicher Empfindungen gehen und nicht sicher sind, was sie aussprechen dürfen/wollen und was nicht.

Wird in einer Gruppe getanzt, so braucht jeder und jede Empathie, um Impulse aufzunehmen und sie als Inspiration für eigene Bewegung zu nutzen. Gemeinsames Tanzen erzählt, wie sich Individuen auf einen gemeinsamen Rhythmus einschwingen können, indem sie aufeinander achten; aber es erzählt auch, wie dadurch eine Gemeinschaft entsteht, in der sich die Einzelnen anfeuern, unterstützen und stärken können. 

Entfernen wir uns vom konkreten Beispiel A Human Race und schauen auf die Tanzgeschichte: von Volks- und Stammestänzen über Hoftänze bis zum Ballett, vom Ausdruckstanz über Modern und Postmodern Dance bis hin zu den urbanen Tanzformen, die wir heute kennen – Tanz war und ist einerseits universell, da jeder Mensch, der einen Körper hat, auch tanzen kann.

Andererseits ist Tanz kulturell und historisch geprägt und wahrlich nicht, wie so gerne gesagt wird, eine Sprache, die alle verstehen.

Kinder und Jugendliche, die noch nie ein Tanzstück gesehen haben, sind überrascht und manchmal auch irritiert davon, was auf der Bühne passiert. Es ist gar nicht so leicht, der eigenen Wahrnehmung zu vertrauen und getanzte Bewegungen wertfrei wirken zu lassen. Im besten Fall werden die eigenen Spiegelneuronen befeuert und es entsteht Lust, selbst mitzutanzen – auch das ist ein Akt der Empathie.

In der Vermittlung, also im begleitenden Workshop oder Nachgespräch, kann auf drei Ebenen gearbeitet und der Erzählung von Tanz nachgespürt werden: körperlich, emotional und mental.

- Welche Bewegungen sind in Erinnerung geblieben, können sie noch einmal nachvollzogen werden, ganz ohne Worte?

- Welche Qualität hatten die Bewegungen: fließend, eckig, schnell, langsam, raumgreifend oder ganz nah am Körper?

- Welche Gefühle wurden beim Zuschauen empfunden?

- Welche Bewegungen haben diese Gefühle hervorgerufen?

- Was wurde gedacht und erinnert beim Zuschauen?

So ist das Erzählen von Tanz erweitert durch eine physische und emotionale Wirkung, die das Kognitive, worauf in unser aller Alltag sonst so viel Wert gelegt wird, um ein Vielfaches bereichert.

Tanz ist eine Einladung, sich selbst als ganzheitliches Wesen und Bewegung als integralen Bestandteil unseres Lebens zu begreifen. Er lehrt den Respekt vor dem Körper der anderen und sensibilisiert für Verletzlichkeit und die Möglichkeit zum Empowerment. 

Amelie Mallmann ist Dramaturgin und Tanzvermittlerin. Seit 2018 arbeitet sie für TANZKOMPLIZEN – Tanz für junges Publikum, davor war sie am Landestheater Linz, dem Theater an der Parkaue und dem Deutschen Theater Berlin engagiert und hat freiberuflich u. a. für das „Kunstfest Weimar“, das „Festival Theaterformen und „Augenblick mal! – Festival des Theaters für junges Publikum“ gearbeitet. Sie war im Vorstand der dramaturgischen Gesellschaft und ist derzeit Co-Leiterin des Zertifikatskurses „Biografisch-dokumentarisches Theater“ an der Universität der Künste Berlin. E-Mail: mallmann@tanzzeit-berlin.de

Dieser Text ist erschienen in AG Jugendliteratur und Medien - AJuM (Hrsg.): "Spielweisen für junges Publikum. Einblicke in das Kinder- und Jugendtheater", kjl&m 22.2 | forschung.schule.bibliothek, München 2022.

Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber.