Amelie Mallmann
Tanz erzählt
Beitrag aus dem Heft "Spielweisen für junges Publikum"
3.06.2022
Amelie Mallmann
3.06.2022
Eine Tänzerin und vier Tänzer stehen außerhalb eines großen Kreises aus Sand. Die Atmosphäre ist angespannt, das Licht düster. Kein Laut ist zu hören. Doch dann beginnt einer sich zu bewegen, langsam aber kraftvoll stampft er mit seinem Bein auf. Der Arm bewegt sich nach oben, der ganze Körper folgt dem Impuls. Seine Bewegungen heißen stomp und jab: Während die stomps die Füße in der Erde verankern und Stabilität bewirken, strecken sich die Arme mit den jabs gen Himmel, sammeln Energie ein und schleudern sie in den Raum. Langsam bringen sich auch die anderen in Bewegung, nicht nur ihr Körper, sondern auch ihre Mimik fängt an zu tanzen. Dann setzt die Musik ein: Le Sacre du Printemps von Igor Strawinsky.
Diese Anfangsszene aus dem Tanzstück A Human Race – The Rite of Krump des französischen Choreografen Grichka Caruge etabliert jede Figur mit ihrer eigenen Art, sich zu bewegen. Die Langsamkeit drückt Vorsicht aus, ein wachsames Abwarten, was mit der Gruppe passieren wird. Die Spannung steigt durch die Stille, die dann ganz überraschend von der Musik durchbrochen wird. Nun beginnt die Geschichte dieser Gruppe, die sich weder chronologisch noch verbal vor den Augen des jugendlichen Publikums ab 11 Jahren entspinnt. Es ist die Geschichte von fünf Menschen, die Diskriminierung erfahren haben und in ihrem Tanz ein Ventil für unterdrückte Gefühle finden. Die Gemeinschaft bietet ihnen den Schutzraum, sich schonungslos zu zeigen.
Das Stück läuft derzeit im Programm von TANZKOMPLIZEN, einer Spielstätte in Berlin, die ausschließlich Tanz für junges Publikum zeigt. Jugendliche mit einem urbanen Tanzstil und einem Musikstück von 1913 zu konfrontieren, ist ein Wagnis, müssen sie sich doch auf Emotionen einlassen, deren vehementer Ausdruck kaum Rückzugsmöglichkeiten zulässt. Was erzählt ihnen der Tanz dabei, was erzählen die Körper, die sich so sehr in Rage tanzen tanzen? Das Publikum nimmt wahr, dass der Körper in der Lage ist, Gefühle nach außen zu transformieren, indem die Bewegungen auf bestimmte Weise geformt und gestaltet werden. Der Körper fungiert dabei als Archiv: Alle Muskeln, Sehnen, die Haut, die Knochen, alle Flüssigkeiten und Organe speichern Empfindungen, Erfahrungen, Traumata. Wie wir uns bewegen, zeigt, wer wir sind und was wir erlebt haben.
Auf einer Bühne kann vieles durch Worte transportiert werden, aber nur durch die Körpersprache wird der Gehalt einer Botschaft tatsächlich erfahrbar.
Wer allein tanzt, braucht einen Zugang zu den eigenen Gefühlen und den Willen zur Gestaltung. Dann lässt sich nahezu alles in Bewegung übersetzen. Dann wird der Weg frei, sich auch ohne Worte auszudrücken und gespeicherte Emotionen loszulassen.
Andererseits ist Tanz kulturell und historisch geprägt und wahrlich nicht, wie so gerne gesagt wird, eine Sprache, die alle verstehen.
Amelie Mallmann ist Dramaturgin und Tanzvermittlerin. Seit 2018 arbeitet sie für TANZKOMPLIZEN – Tanz für junges Publikum, davor war sie am Landestheater Linz, dem Theater an der Parkaue und dem Deutschen Theater Berlin engagiert und hat freiberuflich u. a. für das „Kunstfest Weimar“, das „Festival Theaterformen und „Augenblick mal! – Festival des Theaters für junges Publikum“ gearbeitet. Sie war im Vorstand der dramaturgischen Gesellschaft und ist derzeit Co-Leiterin des Zertifikatskurses „Biografisch-dokumentarisches Theater“ an der Universität der Künste Berlin. E-Mail: mallmann@tanzzeit-berlin.de
Dieser Text ist erschienen in AG Jugendliteratur und Medien - AJuM (Hrsg.): “Spielweisen für junges Publikum. Einblicke in das Kinder- und Jugendtheater”, kjl&m 22.2 | forschung.schule.bibliothek, München 2022.