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Offensive Tanz

© sssss

Falk Schreiber

Wenn die Sounds verlöschen, dann klingt die Halle

Lucia Glass: Die Choreographie der Dinge

Die Dinge leben. Mittelgroße Sperrholzkuben bewegen sich durch den Raum, und an ihnen hängen Performer*innen, vollziehen Bewegungen nach, bilden Gemeinschaften und lösen sich wieder voneinander. Nicht die Performer*innen bewegen sich, sie werden bewegt: Die Motivation der Bewegungen sind diese rätselhaften Kuben.
Stimmt natürlich nicht. Natürlich hat Lucia Glass für ihr Pop-up-Stück Die Choreographie der Dinge und Geräusche keine Holzkästchen zum Leben erweckt, natürlich hat die Hamburger Künstlerin die Bewegungen von Menschen choreographiert, und diese Menschen heben, schleppen, schieben, zerren die Kästchen durch den Raum. Bloß machen die Szenen dann eben den Eindruck, dass zu Beginn tatsächlich eine Performerin ihr Kästchen anhebt, durch die Luft schiebt – und plötzlich scheint das Objekt eine eigene Kraft zu entwickeln, und der Arm schiebt nicht mehr den Kubus, der Kubus bewegt sich aus sich selbst heraus, er zieht den Arm mit, und der Arm zieht den Körper.

In der Schulturnhalle

Die Choreographie der Dinge und Geräusche ist als Pop-up-Stück an der Stadtteilschule in Hamburg-Blankenese entstanden, das heißt: Aufführungsort ist eine schmucklose Turnhalle (weswegen das Stück bei Interesse auch problemlos an anderen Schulen aufgeführt werden kann), es tanzen Schüler*innen der Jahrgänge 6 bis 13, gemeinsam mit dem Profitänzer Jonas Woltemate und dem Musiker Clemens Endreß. Der einen suggestiven Soundteppich über die Performance legt: elektronisches Knistern, analoges Schleifen, ein tiefes Brummen differenziert sich als zaghafter Beat aus. Und wenn die Sounds verlöschen, dann klingt die Halle: Quietschen auf Kunststoffboden. Fußtrappeln. Schwerer Atem. Halle, Performance, Musik, alles eine Bewegung.

Im Unklaren

Zumindest bei der Endprobe, drei Tage vor der Premiere am 24. Mai ist noch nicht alles an diesem Stück bis ins Letzte durchgetaktet: Manche Bewegungsfolgen würden noch ein bisschen mehr Genauigkeit vertragen. Ob es eine gute Entscheidung ist, kurz vor Schluss die abstrakte Ebene zu verlassen und ein konkretes Bild entstehen zu lassen, ist noch nicht ganz klar. Und gleichzeitig muss die Choreographin darauf achten, dass bei der Premiere nicht alles zu genau gearbeitet ist, dass offene Stellen bleiben, ein Geheimnis im Tanz nicht aufgelöst wird – die Qualität des Projekts liegt auch im Unklaren, in einer Bewegung, deren Ursprung sich nicht so einfach decodieren lässt, einer Bewegung, die man als Tanz lesen kann oder als physikalisches Gesetz, dessen Hintergrund man ahnt aber nicht bis ins Letzte versteht. Allein: Dass Die Choreographie der Dinge und Geräusche eine starke künstlerische Setzung ist, steht außer Frage. Und jenseits dieser künstlerischen Setzung beweist die Produktion noch etwas: eine tänzerische Präsenz, die weit über Laienniveau hinausweist. Während der mehrmonatigen Probenphase hat es Glass geschafft, die Schüler*innen, die von ganz unterschiedlichen tänzerischen Niveaus kommen und ganz unterschiedliche Altersstufen abdecken, zu einem Ensemble zusammenzuführen, einem Ensemble, das sich in den Dienst des Tanzes stellt und das gleichzeitig die individuellen Tänzer*innenpersönlichkeiten achtet. Die Choreographie der Dinge und Geräusche ist so ein Stück, das jenseits der Performancearbeit mit jugendlichen Laien steht: Kunst nämlich. Kunst, bei der sich gar nicht mehr die Frage stellt, wer hier ausgebildete Künstler*in ist und wer Schüler*in mit Faible für Tanz.

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Das Stück ist magisch und wunderbar geeignet für ein junges Publikum, für das Träume noch eine sehr starke Präsenz und Realität haben.

Nora Amin, Choreographin und Tänzerin

Nähe erkunden auf Augenhöhe mit dem Publikum

Seine Tänzer*innen bewegen sich tastend, vorsichtig, mal streckt Rachell Bo Clark eine Hand zu einer Geste aus, die von Enis Turan beantwortet wird, die Körper fließen sanft ineinander. Alles wirkt weich und organisch. Keine Wendung wirkt erzwungen oder künstlich. Die Bewegungen sind präzise kalibriert, auch wenn eine Freiheit in der Ausführung spürbar ist. Gleichzeitig entsteht eine große Sinnlichkeit im Raum, die sich aus Lebensnähe speist. Der Zauber dessen, was Nähe sein kann, verbindet sich in dem Zusammenwirken der Körperlichkeit der Tänzer*innen, der Musik, der Sprache und der Gegenstände. Auf der gegenüberliegenden Bühnenseite erkunden der Musiker – und hier ebenfalls Tänzer – Hang Linton und Maciek Sado in Wort und Bewegung die Frage, bis zu welchem Punkt eine Berührung noch okay sei – und wann einer von beiden Stopp sagen würde. Die Atmosphäre fühlt sich sicher an. Nicht nur, weil Tänzer*innen hier sehr respektvoll miteinander und mit Intimität umgehen, sondern auch weil der Zuschauer*innen einen Schutzraum vorfindet, in den er sich zurückziehen kann, indem er die elektronische Musik und die Texte über Kopfhörer hört, der es ihm aber auch ermöglicht, sich einzulassen.

Eine Koproduktion mit Le Petit Théâtre de Lausanne (entstanden am 25. Oktober 2017 am Le Petit Théâtre de Lausanne), Jungspund – Theatre Festival for Young Audiences St.Gallen im Rahmen von Fund Young Audiences by Reso – Dance Network Switzerland. Gefördert durch Pro Helvetia. Cie Philippe Saire wird von einer gemeinsamen Unterstützungsvereinbarung zwischen der Stadt Lausanne, Kanton Waadt und Pro Helvetia – Schweizer Kulturstiftung gefördert, unterstützt von Loterie Romande, Fondation de Famille Sandoz, Migros Kulturprozent, Corodis. Cie Philippe Saire hat eine ständige Residenz am Théâtre Sévelin 36, Lausanne.