Direkt zum Inhalt
Offensive Tanz

© Mohamed Samy Negm

Nora Amin

Playing with Authority

Keynote Speech von Nora Amin

Keynote – gehalten am 08.11.2020 im Rahmen des Symposiums "Race – Class – Gender. Intersektionale Perspektiven in Tanz und Theater für die Jüngsten"

Autorität hat in der gesamten Geschichte der Performance – von Theater über Musik bis hin zu Tanz – immereine Rolle gespielt, so wie sie es bei jeder Form des öffentlichen Ausdrucks tut. Der öffentliche Aspekt dieser Ausdrucksformen macht es unabdingbar, das Dargebotene zu überprüfen und zu überwachen, da es einesichtbare Kommunikation etabliert und gesellschaftspolitische Aussagen trifft, die einen Einfluss auf die öffentliche Meinung haben können. Die Autorisierung von Inhalten und Formen lag dabei schon immer in der Macht des Staates, der kulturellen Elite und der herrschenden Systeme im Allgemeinen. So haben mancheStaaten auch offizielle Zensurbehörden geschaffen – einige davon dem Kulturministerium untergeordnet –und andere haben sich dafür entschieden, die Überprüfung und Überwachung indirekt oder gar vertraulich durchzuführen. Auch die Macht der Gesellschaft kann eine Autorität sein, eine Autorität, die erlaubt oder verbietet. Das herrschende ethische System und die bürgerlichen Konventionen machen es möglich,bestimmte Inhalte durch Ablehnung, Verdrängung und Beschämung auszuschließen. Alles, was in die Kategorie einer Opposition zum herrschenden politischen oder ethischen System fällt, könnte so wahrscheinlich zum ausgeschlossenen Inhalt werden. Das Wort Tabu wird seit jeher nicht nur mit bestimmten Taten und Handlungen, sondern auch mit Äußerungen in Verbindung gebracht.

Welche Tabus haben wir im Bereich der öffentlichen Meinungsäußerung?

Das Wort Tabu ist wahrscheinlich sogar stärker mit Äußerungen bzw. der Bekundung von Taten verbunden als mit der tatsächlichen Ausführung dieser Taten. Die öffentliche Äußerung einer Sache kann stärker sein als die Sache selbst. Die öffentliche Äußerung und Streuung hat die Macht, sich auszubreiten und zu beeinflussenund wird so zu einem politischen Werkzeug. Eine Kraft[i] ist eine Fähigkeit, etwas zu tun. Als Kind und Teenager hatte ich die Kraft, auf den Straßen von Kairo zu tanzen, ich war erfüllt von dieser Kraft, sie nährte mich – aber konnte ich wirklich auf der Straße tanzen? Nein. Ich hatte nicht die Befugnis, also die Autorität, meine Kraft in die Tat umzusetzen, sie geschehen zu lassen. Jemand anderes hatte – und hat noch immer –diese Autorität; die Autorität, die Ausübung meiner Kraft und solcher Handlungen im Allgemeinen zu erlauben. Die meiste Zeit meiner Karriere durfte ich weder tanzen noch Straßenperformances machen – obwohl das mein Traum mit dem Theater der Unterdrückten in Ägypten war –, weil es ein sogenanntes Notstandsgesetz gab, das 35 Jahre lang – bis zur Revolution 2011 – galt und Straßenperformances nicht erlaubte, da es sie als öffentliche politische Handlungen einstufte. Demnach gab es keine Unterscheidung zwischen einem Protest und einer Tanzveranstaltung. Jede:r, die:der die Kraft und die Veranlagung hatte, etwas zu tun, brauchte eine Genehmigung. Autorität, autorisiert und Autorisierung.

Welche Bedeutung hat die Autorisierung in deinem eigenen Leben?

Wer aber hatte die Macht zu autorisieren? Wer hatte die Macht, die Machthabenden zu autorisieren? Natürlich war dies der Staat, das Regime, die Regierung, das Rechts- und Justizsystem, die religiösen Institutionen, die Eltern, die Lehrer:innen, die geistlichen Führer:innen, die politischen Führer:innen, der Chef der politischen Partei, der Intendant des Theaters. Autorität war eine Möglichkeit, Macht zu instrumentalisieren, sie zu filtern, auszubeuten und zu unterwerfen. In Wirklichkeit gab es damals also keine Macht, sondern nur Autorität. Gilt dies auch für Deutschland? Für Europa? Gilt es für demokratische Staaten? Meiner Meinung nach gilt das Konzept der Autorität überall und jederzeit, da es eine Voraussetzung für das Regieren ist. Es gibt kein Regieren ohne Autorität. Aber wenn die Demokratie beansprucht wird, kann Autorität vielleicht durch Transparenz und Gleichheit erreicht werden, wobei Transparenz und Gleichheit zugleich Prinzipien und Schutzmaßnahmen sind. Die Legitimität derjenigen, die die Autorität innehaben, die die Macht haben zu autorisieren, wird durch Wahlen, Engagement, öffentliche Diskussion, Gerechtigkeit und Transparenz gültig gemacht. Damit wird die Legitimität selbst durch das Volk autorisiert. Und nur in dieser Situation können wir die Mentalität der Menschen und ihr Denksystem hinterfragen. Unser gesamtes Denksystem wird von Vorstellungen von Normativität und Normalität beherrscht. Diese Vorstellungen sind nicht unabhängig von unserer universellen Geschichte der Unterdrückung, Diskriminierung und Hierarchie. Diese Vorstellungen sind nicht unschuldig. Wie alle Bereiche der Ethik und Moral sind sie kontaminiert miteiner traumatischen Geschichte dessen, was „normal“ ist, was „akzeptabel“ ist, was „in Ordnung“ ist und was „nicht in Ordnung“ ist, was „schön“ ist und was „hässlich“, was „überlegen“ ist und was „minderwertig“ist. Diese universelle Geschichte hätte nicht bis heute überlebt – denn sie ist bis heute lebendig –, wenn es nicht die Pädagogik gäbe. Die Pädagogik ist das Werkzeug zum Schutz der Normen, der herrschenden Ethik und des Struktur von Persönlichkeit und Identität. Die Pädagogik umfasst den gesamten Bereich der Wissensvermittlung, alle Lernsysteme und was auch immer unser Verständnis der Welt und unserer selbst von Geburt an prägt und speist. Diese Pädagogik ist eine Schutzmaßnahme der Autorität. Sie sichert die Macht der Autorität. Deshalb werden Wissen, Traditionen und Normen von einer Generation zur nächstenweitergegeben und durch die Pädagogik aufrechterhalten. Dabei kann die Pädagogik an sich alles sein, sie kann chaotisch sein, sie kann säkular oder religiös sein, sie kann eine unterdrückende oder eine befreiende und befähigende Pädagogik sein.

Welche Arten von Pädagogik hat deine Gesellschaft durchlaufen?

Für jede Ideologie und jedes Herrschaftssystem gibt es eine passende Pädagogik. Nichtsdestotrotz kann eine Pädagogik durch außerordentliche und langwierige Bemühungen auch revidiert werden. Sie kann von einer unterdrückenden zu einer befreienden verkehrt werden und umgekehrt. Auch dies hat wiederum die Autorität in der Hand. Paulo Freire (ein großer Denker, Pädagoge und Philosoph) und Augusto Boal (der Begründer des Theaters der Unterdrückten) arbeiteten Hand in Hand, um die Pädagogik der Unterdrückten in eine Pädagogik der Selbstbefreiten zu verwandeln. Das damalige autoritäre System in Brasilien – also die Diktatur – hatte sich durch eine Pädagogik der Unterdrückung abgesichert. Paulo Freire schuf 1968 einen grundlegenden Text der kritischen Pädagogik, sein berühmtes Buch „Pädagogik der Unterdrückten“, in dem er eine detaillierte marxistische Klassenanalyse in seine Untersuchung des Verhältnisses zwischen Kolonisator und Kolonisierten einbezieht. In dem Buch bezeichnet Freire die traditionelle Pädagogik als das „Bankenmodell der Erziehung“, weil sie Schüler:innen wie ein leeres Gefäß behandelt, das mit Wissen gefüllt werden soll. Er argumentiert, dass die Pädagogik stattdessen die Lernenden als Mitschöpfer:innen von Wissen behandeln sollte.

Ich schlage vor, dass wir mittels der kritischen Pädagogik – als Element des kritischen Diskurses im Allgemeinen – unsere Praktiken und Umgebungen neu untersuchen. Zum Beispiel instrumentalisieren die unterdrückerischen Pädagogiken – die an vielen Orten der Welt existieren – die Bürger:innen in der Regel, indem sie diese dazu bringen, die Systeme ihrer eigenen Unterdrückung zu reproduzieren. Wie ich einmal über Ägypten gesagt habe, reicht es nicht aus, die Spitze des Regimes zu entfernen, wir müssen vielmehr als Bürger:innen darauf hinarbeiten, unser eigenes Denksystem zu verändern, sonst laufen wir Gefahr, dieselbeUnterdrückung immer wieder zu reproduzieren. Deshalb ist der lange Kampf für Veränderung und Gleichheit derjenige, der im Bereich der Pädagogik stattfindet.

Welche Form(en) der kritischen Pädagogik gibt es in unserer Gesellschaft?

Wenn wir uns – in unserer Gesellschaft – immer noch mit Fragen und Problemen der Vielfalt, Gleichheit und Gerechtigkeit beschäftigen, dann müssen wir unsere Pädagogik überprüfen. Denn auch wenn wir in einem demokratischen Staat leben, gibt es keine Garantie dafür, dass unsere Pädagogik frei von Übeln ist. Die Demokratie an sich reicht nicht aus, wenn das gesamte Denken und die Überzeugungen der Mehrheit nicht auf den Prinzipien der Gleichheit und Gerechtigkeit beruhen. Ein langer Prozess des Hinterfragens und Überprüfens hat uns heute hierhergebracht, hat uns zusammengebracht und uns in den Bereich der Performance für junges Publikum geführt. Denn die Arbeit für Kinder undi Jugendliche bringt uns direkt in die Domäne der Infragestellung von Werten und Normativität.

Stellen wir Normen infrage?

Und stellen wir unsere Positionen im Rahmen unserer professionellen Arbeit infrage?

Stellen wir unsere professionellen Positionen infrage?

Wenn wir mit und für ein Publikum arbeiten, das sich im Prozess des Wachstums und der Transformation befindet, muss uns bewusst sein, dass jede Information, jede Bewegung, jeder Dialog und jede visuelle Komposition dazu beiträgt, das Bewusstsein dieser jungen Zuschauenden zu erweitern und ihre Identitäten, ihre Vorstellung von Normalität und ihre Weltsicht zu formen. Das ist eine gigantische Verantwortung. Eine Verantwortung, die nicht die Tatsache ausklammert, dass wir – als erwachsene Kunstschaffende, Administrator*innen und Arbeitende – selbst noch im Prozess der Hinterfragung unserer Identitäten, Wertesysteme und professionellen Positionen stecken – ich würde sagen „unserer intersektionalen Positionen“. Denn jede*r von uns ist VIELE.

Welche Rollen spiele ich täglich?

Die Rollen, die wir spielen, und die Geschichten, die wir mit uns herumtragen, bilden bei jedem von uns ein intersektionales Feld von Identität und Selbstpositionierung. Aber kommen diese Intersektionalität und Pluralität bei der Schaffung unserer Arbeit auch zum Tragen? Und wie? Begegnen wir Einschränkungen? Vorurteilen? Tabus? Stellen wir die allgemeine Pädagogik, innerhalb derer wir arbeiten, häufig infrage? Warum stellen wir sie infrage? Wie stellen wir sie infrage? Tun wir das, weil unsere Positionen – intersektionale Positionen – uns zu dieser Hinterfragung bringen? Tun wir es aufgrund politischer Überzeugungen? Tun wir es, weil wir – in unserem persönlichen Leben – verfolgt, diskriminiert, etikettiert, entmachtet und bedroht worden sind? Wo liegt die Antwort? Oder ist auch die Antwort intersektional?

Welche persönlichen Kämpfe führe ich?

Mich überrascht es sehr, dass die Bereiche von Bildung und Kunst so stark voneinander unterschieden werden. Für mich ist es unmöglich, diese Unterscheidung vorzunehmen. Darauf zu beharren – ja sie sogar zu erzwingen – kann nur aus einer Mentalität heraus geschehen, die mit Trennungen, Unterbrechungen und Grenzen arbeitet. Es offenbart ein Bedürfnis danach, ständig Kategorien zu erschaffen und sie voneinander zu trennen.

Innerhalb welcher Kategorien bewege ich mich selbst?

Eine solche Mentalität der Unterteilung und Kategorisierung repräsentiert eine Vision der Welt, die nicht ganzheitlich und intersektional sein kann.

Was bedeutet „ganzheitlich“ für dich auf einer professionellen Ebene?

Es ist eine Vision der Welt, die nicht den natürlichen Fluss widerspiegelt, wie Identitäten wachsen, verschmelzen, sich verbinden, verflechten und überschneiden. Eine Vision der Welt, die ein fragmentiertes Selbst als „normal“ ansieht.

Was bedeutet „ein fragmentiertes Selbst“ für dich?

Ein:e Lehrer:in kann auch ein:e Schauspieler:in sein, ein:e Tänzer:in kann ein:e Lehrer:in sein, ein:eVermittler:in und ein:e Heiler:in. Eine Performance kann die Möglichkeit einer Transformation vermitteln, einer Selbstverwirklichung, einer imaginären Tat, eines Wertes, der der gesellschaftlichen Normativität widerstrebt. Eine Performance, die von und mit Jugendlichen geschaffen wird, ist ein Statement über Möglichkeiten.

Erzeuge ich „Statements über Möglichkeiten“?

Es ist auch ein Statement über die Anerkennung und Validierung dessen, was noch werden soll.

Was erkenne ich an und bestätige ich?

Es ist ein Statement über die Anerkennung der Jugend als Wissensträgerin, als Schöpferin und Mitgestalterin der Pädagogik. In dieser Aussage steckt ein riesiges Potenzial, die Grenzen zwischen Bildung und Kunst zu verschieben und die Bühne mit der Pädagogik zu verschmelzen und beide zu transformieren. Denn wir sollten nicht vergessen, dass auch die Bühne selbst kein Ort ist, der frei von Autorität ist,

Welche Formen der Autorität gibt es in unserem Theaterbereich?

nicht frei von Hierarchien

Welche Formen der Hierarchie gibt es in unserem Theaterbereich?

und nicht frei von Unterdrückung.

Die Geschichte der Performance trägt die traumatischen Erfahrungen von Ablehnung, Beschämung und Ausschluss in sich. Jede Gesellschaft hat ihre eigenen Wunden, die sich auch auf der Bühne in Form von Tabus niederschlagen.Die Tabus verbergen und verleugnen die Wunde und weiten und vertiefen sie dadurch.

Was soll man zeigen und was nicht? Und wenn wir es hinnehmen, etwas „nicht zu zeigen“, würde das nicht bedeuten, dass wir Kompliz:innen beim Verstecken der Wahrheit sind und bei der Auswahl der zu(re)präsentierenden Realität? Lässt das pädagogische System diese Wahl überhaupt zu? Oder sind wir durch eine Art von Autozensur konditioniert, Themen und Erfahrungen ausschließen, ohne sie mit uns selbst zu diskutieren?

Auch innerhalb des Kunstsystems funktioniert Autorität wie eine Diktatur, in der einige Kunstformen völlig beschämt und ausgeschlossen werden und in der es immer vorgefasste Vorstellungen davon gibt, was „akzeptable Kunst“ ist, was „gute Qualität“ und was „Exzellenz“ ist. Als Migrantin habe ich das Privileg, nicht alles zu wissen, immer zu hinterfragen und nach dem „Warum“ zu fragen. Warum gilt dies als gutes Theaterstück, und warum wird diese Form als Folklore oder kulturspezifische Kunst angesehen und nicht als universelle? Warum ist es nicht möglich, eine Baladi-Tanzaufführung für Jugendliche zu präsentieren oder sie einzuladen, Dabke zu üben? Warum wird das Publikum als lediglich zuschauend begriffen oder konstruiert? Und – da jede Aufführung auf einem Prinzip des „Blicks“ beruht – mit welchem Blick haben wir es hier zu tun? Aus welcher Perspektive? Wer besitzt die Autorität, über die Perspektive des Blicks zu entscheiden? Sind wir irgendwie konditioniert auf einen bestimmten Blick, der nicht wirklich unserer ist? Und wie kann man dem jungen Publikum ermächtigen, seinen eigenen freien Blick zu finden?

Jeder Aufführung liegt ein Konzept zugrunde, wie sie betrachtet werden sollte. Wie formulieren wir beiunserem jugendlichen Publikum die Art und Weise, wie unsere Aufführungen gesehen werden sollen? Nach welchem System der Autorität? Aus welcher Position heraus? Und wie passt das alles mit den sozialen und humanen Werten von Gleichheit und Solidarität zusammen? Wie funktioniert das innerhalb eines Wissenssystems, das auf Othering[ii] beruht? Wie gehen wir mit Fragen der Identität um, wenn es um ein junges Publikum geht, wo wir doch wissen, dass wir auch an der allgemeinen Pädagogik der Staatsbürgerschaft, der Rechte und der Pflichten und Freiheiten beteiligt sind? Welche Perspektive brauchen wir, um unsere kreativen Prozesse hin zu mehr Offenheit, Fluidität und Pluralität zu lenken?

Wie viel Offenheit, Fluidität und Pluralität liegt in meiner Praxis?

Race, Gender und Klasse: Dies sind die Hauptbegriffe der Kategorisierung, der Trennung und des Otherings. Das Wort „Rasse“ sollte aus jeder Verfassung gestrichen werden und definitiv auch aus unserer Wahrnehmung des Menschseins. Es gibt nur eine „Rasse“, und das ist die menschliche Spezies. Während wir uns im ständigen Kampf mit dem Rassismus befinden, dürfen wir aber auch den Sexismus und die Autorität des Patriarchats nicht vergessen, eine universelle Autorität, die die Welten der durch Rassismus Unterdrückenden und Unterdrückten vereint. Und während die privilegierte sozioökonomische Klasse sich der Autorität immer entziehen kann, indem sie zu denen gehört, die die Regeln und Gesetze schaffen, werden diejenigen, die wirtschaftlich benachteiligt sind, zu sozialen Außenseiter:innen. Alles hängt mit allem zusammen. Intersektionalität ist keine neue Erfindung, die uns wachgerüttelt hat; sie war schon immer da, in ihrer negativen Geschichte und in ihrem positiven Potenzial. Intersektional zu denken bedeutet, unser Verständnis von unseren Identitäten und der Welt, in der wir leben, zu erweitern. Es bedeutet, die grundsätzlichen Vorstellungen von unserer Arbeit und unserem Leben zu überdenken und sie als miteinander verbunden und verwoben zu definieren. Es bedeutet auch, an die Schnittmenge zwischen der Bühne und den Menschenrechten sowie der weltweit wachsenden Aggression gegenüber Kindern zu berücksichtigen, die wir in ihrer ganzen Komplexität und Sensibilität ansprechen müssen, denn selbst Kinder in Kitas scheinen mittlerweile traumatische Erfahrungen gemacht zu haben, wenn auch in seltenen Fällen, und dies ist entscheidend für die Bewusstseinsbildung in Bezug auf Selbstständigkeit, Schutz und Rechte.

Intersektional zu denken heißt auch, intersektional zu handeln und die eigenen Geschichten und Traumaerfahrungen nie aus den Augen zu verlieren. Intersektional zu denken heißt, Performances als Pädagogik zu denken und die Pädagogik als Performance von Autorität zu denken. Es heißt, unser kreatives Selbst als ein zuschauendes und schöpfendes zugleich, als ein erwachsenes und jugendliches zugleich zu denken.

Intersektional zu denken bedeutet, unsere eigene Identität zu befragen und die verschiedenen Wege des Selbst zu verorten, die alle noch lebendig sind und funktionieren und sich überschneiden. Über die Überschneidungen von Race, Gender und Klasse nachzudenken, bedeutet auch, über die Überschneidungen von Unterdrückungen, die Überschneidungen von Privilegien sowie die Überschneidungen von Unterdrückungen und Privilegien nachzudenken. Es bedeutet auch, darüber nachzudenken, wer überhaupt ins Theater geht, wer uns sieht, wer uns hört, und wen wir ansprechen? Und wir: Mit wem reden wir? Wie stellen wir uns unsere Gesellschaft vor? Und wie träumen wir von der zukünftigen Bürger:innenschaft?

Was wünsche ich mir für die Zukunft?

Es ist auch unerlässlich, an die Intersektionalität von Autoritäten zu denken. Es gibt viele Autoritäten, die unseren künstlerischen Bereich beeinflussen: staatliche Autoritäten, wirtschaftliche und soziale Autoritäten und politisch-historische Autoritäten. Wer hat das letzte Wort? Wer trifft die finale Entscheidung? Was sind die Kriterien? Was ist die Norm, wenn es eine gibt? Und warum brauchen wir überhaupt eine Norm?

Künstler:in zu werden, ist ein Umstand, der mit Autorität einhergeht. Es bedeutet, Zugang zu den Künsten zu haben, in die Kunstwelt aufgenommen zu werden, von dieser Gemeinschaft akzeptiert zu werden, und die Möglichkeit zu haben, die darstellenden Künste zu studieren – sofern man das möchte – und sie professionell auszuüben? Wie groß ist meine Chance, Tänzerin zu werden, wenn ich eine Frau of Colour in einer unterprivilegierten ökonomischen Situation, mit einem massigen Körper und einer leichten Behinderung bin? Welche Chance hatte ich als Kind, Ballett im Stadttheater zu sehen? Und welche Chance hatte ich, auf der Bühne eine Tänzerin zu sehen, die meiner intersektionalen Identität ähnlich war? Manche Situationen sind einfach nicht vorstellbar. Und solange sie nicht vorstellbar sind, gibt es keine Gleichberechtigung und keine Solidarität. Denn auf diese unvorstellbaren Szenarien hinzuarbeiten, heißt auch, auf eine zukünftige Gesellschaft hinzuarbeiten, in der die Pädagogik von der Kolonialgeschichte, ökonomischen Privilegien und patriarchaler Herrschaft befreit ist. Die Bühnen der darstellenden Künste, ob für Jugendliche oder für Erwachsene, sind immer noch völlig kontaminiert von diesen historischen Entwicklungen, diesen (intersektionalen) Entwicklungen. Und vielleicht bedeutet das Vorwärtskommen – an einem gewissen Punkt –auch, Privilegien aufzugeben, oder zumindest einen kleinenTeil davon. Es wäre ein ziemlich großer Gewinn, da es als politischer Akt betrachtet werden kann, der das Gefühl der Solidarität wiederherstellt und dabei hilft, eine Art von Zusammengehörigkeit zu schaffen, die eine bessere Zukunft für alle in Gang setzen kann.

Ist nicht all dies mit Autorität verbunden? Mit Race, Gender und Klasse? Sicherlich leben wir in einer vielfältigen Gesellschaft, aber bedeutet diese Vielfalt auch Gleichheit?

Lässt sich diese Vielfalt auch in Gleichheit umwandeln?

Lässt sie sich in eine Pluralität der künstlerischen Praktiken und des Zugangs übersetzen?

Oder ist es eine Vielfalt, die kategorisiert und „autorisiert“ wird, wie ein Etikett?

Ist Jugendtheater eine Kategorie, die dem Erwachsenentheater unterlegen ist? Warum ist das so? Woher kommt diese Hierarchie, wenn sie nicht von der Annahme ausgeht, dass ein Kind im Vergleich zu einem Erwachsenen ein minderwertiges Wesen ist? Und damit auch der ganze Bereich des Jugendtheaters? Wie kann man aus einem „Theater für die Jugend“ ein „Theater DER Jugend“ machen, eine pädagogische Domäne, die der Gesellschaft und der Kulturpolitik voraus ist, ein pädagogisches Feld von morgen?

Wie können wir Autorität nutzen, um Autorität zu dekonstruieren und die Legitimität des kreativen Selbst wiederherzustellen und so zur Autorität der Nicht-Autorität zu gelangen?

Wie können wir mit Autorität spielen? Können wir gegen die Autorität spielen? Oder können wir mit einer Haltung der Autorität spielen?

Bildet das Spielerische eine potentiell transformative Kraft in unserem Feld?

All diese Fragen heute und hier gemeinsam zu diskutieren bedeutet, sich vorwärts zu bewegen. Es ist eine Bewegung, in der es keine Trennung zwischen künstlerischer Kreativität und Aktivismus gibt, denn kollektive Aktionen, die ein klares Ziel und eine Strategie haben, sind bereits Aktivismus. Jenseits des traditionellen Bildes von Protesten und Demonstrationen können wir – als Künstler:innen – unsere eigene Form des Aktivismus schaffen. Nur ein Buchstabe unterscheidet ART und ACT. Wir können unsere Ideen, Antworten, Vorschläge in einen Plan zur Weitergabe von Aktionen transformieren und entwickeln, wobei jede Person/Institution die Frage/Aussage erweitern und durch eine weitere symbolische oder künstlerische Aktion ergänzen kann. Lasst uns das Hinterfragen als Grundlage jeder zukünftigen Handlung und Aktion anstreben und lasst uns danach streben, mehr zu tun. Lasst uns darauf zielen, alle gemeinsam zu spielen. Lasst uns spielen!

[1] Im englischen Original: „Power“. „Power“ hat die doppelte Bedeutung von Kraft und Macht. Hier benutzt in Abgrenzung zu Autorität im Sinne einer Autorisierung.

[2] Das Konzept des Othering ist aus dem Kontext der postkolonialen Theorie entstanden. Es wurde vor allem durch Autoren wie Edward Said und Gayatri C. Spivak geprägt. Bei Othering handelt es sich um einen permanenten Akt der Grenzziehung, bei dem Menschen mittels Stereotypisierung zu den „Anderen“ gemacht werden. „Die Anderen“ werden dabei als nichtzugehörig und abweichend kategorisiert und abgewertet. Der Prozess des Othering geschieht häufig innerhalb eines Machtgefälles.

Vgl. https://www.ikud.de/glossar/othering-definition.html

Die Keynote wurde gehalten am 08.11.2020 im Rahmen von Fratz International 2020 und dem Symposium Race – Class – Gender. Intersektionale Perspektiven in Tanz und Theater für die Jüngsten. Die Aufzeichnung kann über diesen Link angesehen werden.

Nora Amins neuestes Buch "Tanz der Verfolgten" erscheint am 18.03 bei Matthes & Seitz.