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Offensive Tanz

Aline Hafermaas

Zaghafter Durchbruch

Die Tanzperformance „Fabelhaft“ von Veronika Heisig und Manuel Lindner lädt dazu ein, Körper und ihre Bewegungsmuster neu zu erfahren.

Der Text ist auf dem Blog zur Veranstaltungsreihe "Berliner Schaufenser" des Theater o.N. entstanden
Ein Mann und eine Frau tanzen auf einer Bühne.
© René Löffler

Die Stirnfalten krumpeln sich durch das Loch, als wären sie ein unabhängiges Wesen. Ein Ellbogen schiebt sich hervor und zwängt sich durch die kleine Öffnung. Organisch, ein bisschen ungewohnt. Finger wie Fühler erkunden den Raum und wagen zaghaft den Durchbruch. Ein Mund, ein Ohr, ein Nasenflügel.

Die Körperteile sind uns allen vertraut, aber in der 25-minütigen Tanzperformance von Manuel Lindner und Veronika Heisig erscheinen sie unerwartet eigenständig: Als einzelne Lebewesen, die autark funktionieren und nur durch Zufall in dieser Anordnung für einen kurzen Moment den menschlichen Körper abbilden. Fragmentarisch formt sich das große Ganze, bald zeigt sich ein starker Arm, ein langes Bein. Die Einzelteile formieren sich zu zwei Darsteller:innen, die diesen Nachmittag für Kinder ab vier Jahren im FELD Theater für junges Publikum in Schönberg gestalten.

Das Bühnenbild ist einfach gehalten und spannt sich in Bahnen aus Plane – wie Wasserstränge, die von oben herab und bis ins Publikum hineinfließen. Die Stränge haben Löcher in verschiedenen Größen und Höhen. Hier geht es um Dekonstruktion und Sensibilisierung für das Kleine: ein Blinzeln steht für sich selbst. Ohren ohne Kontext. Es ist ein kurioses Bild, das den vertrauten Körper in seine Einzelteile zerlegt. Ungewohnt und spielerisch. Die Körperarbeit ist von schnellem Schnalzen begleitet und prägt die Atmosphäre im Publikum. Ein Kind fragt laut: „Wann fangen die zu tanzen an?"

Ungefähr zur Hälfte des Stückes treten die Künstler:innen hinter den Bahnen hervor und experimentieren gemeinsam im Raum mit verschiedenen Bewegungsarten. Ausgangspunkt hierfür ist wieder der Körper in seinen Einzelteilen – aber diesmal in Verbindung zum Gegenüber. Aus der Verbundenheit der Hände erwachsen Bewegungsketten. Die Bewegungen der einen Person übertragen sich auf die andere. Die Bewegungen wirken mechanisch, forschend und irritieren den gewohnten Blick auf Körper – und wie sie sich erwartungsgemäß bewegen.

Ein kurzer Moment der Stille lässt innehalten, die beiden Tänzer:innen trennen sich räumlich. Ein Kind fragt: „Wieso ist es jetzt ganz leise?“

Die Spannung bricht auf und mit ruckartigen, starken und stolzierenden Bewegungen nehmen die Tänzer:innen Raum ein. Sie verschieben den Fokus weg von ihrem Körper und seinen Details hin zur Außenwahrnehmung. Sie lassen ihre Bewegungssprache wirken. Zeitweise hat eine Person ihren Solo-Moment, bevor sie wieder gemeinsam eine kleine Choreografie tanzen. Wieder wird das gewohnte Bild gestört und für die Zuschauenden ersichtlich: Es gibt keine vorgeschriebene Bewegungsart, jeder Körper kann und darf auch mal etwas Neues ausprobieren.

Der psychische Zustand kann sich auf unseren Körper auswirken, speziell auf unsere Körperhaltung. Umgekehrt kann unsere Körperhaltung auch Einfluss auf unsere Psyche haben und bestimmte Emotionen hervorrufen.

Die offizielle Performance endet nach 25 Minuten, aber nun beginnt der große Spaß: die bewegte Nachspielzeit. Die Kinder werden eingeladen, sich den Bühnenraum anzuschauen und gemeinsam mit den Tänzer:innen zu erkunden. Viele Kinder nehmen zur Sicherheit ihre Eltern mit, fast alle lassen sich auf das Angebot ein. Zunächst geht es darum, die Bühne kennenzulernen. Wie fühlt sich der Boden an? Wie ist es, unter den Scheinwerfern zu sitzen? Dann beginnt die Forschung am eigenen Körper. Die Kinder erkunden ihre Hände in schnellen, gemächlichen, großen und kleinteiligen Bewegungen. Der Kreis wird aufgebrochen, die Kinder begegnen einander im Raum und fangen selbst an zu experimentieren und auszuprobieren. Nach der energetisch aufgeladenen Tanzperformance dürfen sie nun endlich mittanzen und sich bewegen. Sie nutzen die Planen, um selbst zu testen, wie es ist, Körperteile isoliert zu bewegen und in Szene zu setzen. Sie tanzen mit anderen zusammen und beobachten, wo Körpergrenzen verschmelzen und aufbrechen. Wie viel Nähe und wie viel Raum brauche ich selbst und wie viel mein Gegenüber?

Nach zehn Minuten animieren die beiden Tänzer:innen dazu, den gewohnten Bewegungshabitus aufzubrechen und zackige, kantige, abgrenzende und stolze Bewegungen auszuprobieren. Einige Kinder orientieren sich an dem Angebot, andere sind bereits abgetaucht in ihre eigene Bewegungswelt.

Ein Mann und eine Frau tanzen auf einer Bühne.
© René Löffler

Die Performance besticht durch ihre Anschlussfähigkeit. Es sind keine Sprachkenntnisse nötig, um das Bühnengeschehen zu verstehen. Auch an der Nachspielzeit kann problemlos ohne Vorkenntnisse teilgenommen werden. Zudem regt das Stück noch im Theater zum Nachahmen und Ausprobieren an. Das ist gerade für Kinder – auch, wenn sie sich nicht sehr lange konzentrieren können oder einen starken Bewegungsdrang haben – gut, denn so haben sie die Möglichkeit, das Theatererlebnis mit dem Gefühl der Nachspielzeit zu verknüpfen.

Diese Arbeit und die Nachspielzeit regen zu unbekannten oder vielleicht selten erprobten Bewegungsmustern an. Da auch explizit auf schnelle und abgrenzende oder stolze Körperhaltungen und -bewegungen aufmerksam gemacht wird, bietet diese Performance die Möglichkeit, ähnliche Bewegungsabläufe auszuprobieren und mit ihnen zu experimentieren. Es kann hilfreich sein, gerade in diesem spielerischen Kontext ausprobieren zu dürfen, wie sich stolze, zackige und abgrenzende Bewegungen anfühlen und sie versuchsweise zu erproben. Zudem wird in der Nachspielzeit erfahrbar gemacht, wie es ist, auf der Bühne zu sein und im Rampenlicht zu stehen. Kinder bekommen hier die Möglichkeit, ihren Körper neu und in Begegnung anderer Körper zu erforschen.

Ein Vater sagt zu seiner Tochter: „Das war aber mal kein Puppentheater.“ Das Mädchen schüttelt den Kopf: „Nein, das war richtig Theater!“

© René Löffler